Leben im Wachkoma - "Artikel in der Familienwelt"

Jochen kann eine kleine Portion Jogurt essen. Er zwinkert mit den Augen, wenn ihn die Mama fragt, ob es ihm gut geht. Auch seine Hände bewegen sich wieder. Diese scheinbar so unbedeutenden Gesten lösen tiefe Emotionen aus, wenn man die ganze Leidensgeschichte des 24-Jährigen und seiner Angehörigen kennt.
Es geschah zwei Tage vor Weihnachten, am 22. Dezember 1999, auf der A6. Der lebenslustige Niederösterreicher kam mit dem Firmenwagen aus ungeklärter Ursache ins Schleudern, prallte bei der Ausfahrt St. Michael (Stmk.) gegen die Mittelleitschiene und anschließend gegen einen Überkopfwegweiser. Als die Einsatzkräfte wenig später am Unfallort eintrafen, bot sich ihnen ein schreckliches Bild: Der weiße Ford Transit ­ ein Haufen Schrott. Im Wrack der leblose Körper des Burschen. Die Ärzte des LKH Leoben kämpften um das junge Leben ­ mit Erfolg. Doch zu welchem Preis? Jochen wird wahrscheinlich nie wieder der sein, der er vor dem Unfall war. Er lebt in seiner eigenen Welt, einer Welt, in der sich selbst die besten Mediziner noch weit gehend orientierungslos bewegen. Wegen eines Schädel-Hirn-Traumas befindet sich Jochen im Zustand des Wachkomas. Zwei Monate lag er auf der Intensivstation des Leobener Krankenhauses, anschließend wurde er fast acht Monate im Rehabilitationszentrum Wien-Meidling betreut. "Mein Sohn hat dort große Fortschritte gemacht. Er konnte die Personen in seinem Blickwinkel wahrnehmen und ihnen mit den Augen folgen", erzählt Uschi Obermeier. Jochen stand fast täglich auf dem Stehbrett, und sein Kreislauf kam wieder in Schwung. Der Ostersamstag war dann für die ganze Familie der "Auferstehungstag". Die unermüdliche Mutter erinnert sich, als wäre es erst gestern gewesen: "Jochen konnte auf meine Bitte seine Hände gezielt bewegen. Und sein linkes Bein hat er um zehn Zentimeter verstellt." Ein kleiner Schritt nur für einen Gesunden, ein großer Schritt für Jochen. Auch die Empfindsamkeit seiner Haut ist wiedergekehrt. Auslöser: Die kalte Berührung mit einem Eiswürfel.
Am 11. Oktober 2000 wird Jochen ins Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien-Lainz überstellt. Er teilt sein helles Zimmer mit zwei weiteren Wachkoma-Patienten. Jeden Tag bekommt er Besuch. Mutter und Oma wechseln sich ab, verbringen täglich Stunden bei Jochen. Vater, Stiefvater und Schwester schauen am Wochenende vorbei.

Die Freunde von einst gibt es nicht mehr
Aus den unzähligen Freunden von einst sind ein paar wenige geworden. Der allerseits beliebte junge Mann mit dem großen Bekanntenkreis gerät bei diesem zunehmend in Vergessenheit. "In den ersten Monaten kamen die meisten noch auf Besuch, mit der Zeit wurden es immer weniger. Viele können mit der Situation wahrscheinlich nicht umgehen. Dabei würde ihm Ansprache und der Kontakt mit seinen Freunden so gut tun", ist Uschi Obermeier überzeugt.
Auch Jochens geliebte Freundin Alexandra hat sich nicht mehr gemeldet "Wir hatten ein so gutes Verhältnis, sie war wie eine Tochter für mich. Der Unfall meines Sohnes hat sie natürlich furchtbar getroffen ­ so wie uns alle. Sie ist in Therapie gegangen, dort hat man ihr geraten, jeden Kontakt zu uns abzubrechen. Nur so würde es ihr besser gehen. Im Mai 2000 haben wir das letzte Mal etwas von ihr gehört. Ich habe versucht, sie telefonisch zu erreichen, SMS und Mails geschickt. Alles vergeblich", so Jochens Mutter. Doch die tapfere Frau lässt sich nicht unterkriegen, hat einzig das Wohlergehen ihres Kindes im Sinn. Zu viel hat sie in den letzten beiden Jahren erlebt und erlitten. Das Wort Resignation ist ihr noch nie über die Lippen gekommen. Es wird Jochen wieder besser gehen, er wird Fortschritte machen, wieder nach Hause kommen ­ davon ist sie fest überzeugt.

Ein Tag hat das Leben der Familie verändert
Den Tag, an dem sie vom schweren Verkehrsunfall ihres Buben erfuhr, würde sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis streichen. Zu unglaubwürdig erschien ihr damals die Situation. "Warum mein Sohn? Warum ausgerechnet er?" Fragen, auf die es keine Antworten gibt. "Wir haben uns schon auf das Weihnachtsfest gefreut. Alles lief so gut. Jochen hatte nach langen Durstjahren endlich einen tollen Job gefunden, war Servicetechniker für die Computer der Lotto-Annahmestellen in ganz Österreich. Am 22. Dezember habe ich versucht, ihn zu erreichen, er hat sich nicht gemeldet." Einen Tag später, um viertel neun Uhr morgens läutete das Telefon. Es war Alexandra. Das Krankenhaus hatte sie zuerst informiert.
Uschi Obermeier vesteht bis heute nicht, warum sie erst einen Tag nach dem Unglück verständigt wurde. "Die Polizei ist zur Wohnung meines Sohnes gefahren, hat dort angeläutet und sich gewundert, dass niemand öffnet. Wie hätte er auch sollen. Am nächsten Tag haben sie in der Firma von Jochen angerufen und über einen Arbeitskollegen die Nummer von Alexandra herausbekommen. Warum sie nicht mich als Mutter über das Zentralmeldeamt ausfindig gemacht haben, ärgert mich wirklich sehr."
Von den behandelnden Ärzten erfährt Uschi Obermeier dann, dass ihr Sohn zwar nicht mehr in Lebensgefahr, aber der Zustand sehr, sehr ernst ist. Erst da wird ihr die Schwere des Unfalls bewusst. Die Mutter bricht in Tränen aus, schafft es nicht, sofort nach Leoben zu fahren. "Ich musste mich erst beruhigen, sonst wäre auch ich mit dem Wagen verunglückt." Die Begegnung mit ihrem Kind in der Intensivstation verläuft anders als erwartet. "Ich dachte, dass er sich alle Knochen gebrochen hat. Aber Jochen lag ohne sichtbare Verletzungen im Krankenbett, so, als würde er schlafen. Er hat so wunderschön und friedlich ausgesehen, trotz der vielen Schläuche, die an seinem Körper hingen."
Noch ahnt niemand, dass der junge Mann nach dem Erwachen aus dem künstlichen Tiefschlaf zum Wachkoma-Patienten werden wird. Wenige Tage nach der Einlieferung tauchen die ersten Probleme auf: Die Gehirnblutungen und Schwellungen verursachen im Kopf von Jochen starken Druck ­ die Situation wird gefährlich. Erst nach etwa einem Monat kann der junge Mann langsam aus dem künstlichen Tiefschlaf rückgeführt werden. Es fällt auf, dass Jochens Körper und Geist wenig Reaktionen zeigen. Zu dem Zeitpunkt werden die Eltern erstmals mit dem Wort "Wachkoma" konfrontiert. Ein Wort, dessen Bedeutung sie nicht kennen, das ihnen bis dahin völlig unbekannt ist. Im Internet suchen sie nach genaueren Informationen. "Wir haben vieles gelesen, aber verstanden haben wir nur wenig. Da war noch immer der Glaube, dass die Diagnose ein Irrtum ist und Jochen doch wieder aufwachen wird."
Nach dem Spital ins Geriatriezentrum
Nach zwei Monaten in der Intensivstation wurde der Mutter von einem engagierten Arzt empfohlen, den Patienten in einem Rehabilitationszentrum behandeln zu lassen. "Wir haben natürlich sofort angerufen, wollten uns um einen Platz kümmern. Leider mussten wir erfahren, dass wir an 106. Stelle gereiht sind." Glück im Unglück: Von einem Tag auf den anderen wurde plötzlich ein Bett frei, und Jochen kommt in das Rehabilitationszentrum Meidling. Sieben Monate verbringt er hier. Täglich kümmerten sich Therapeuten um ihn. Die Erfolge können sich sehen lassen. Doch auch die beste Therapie geht irgendwann zu Ende. "Nach einiger Zeit wurde mir gesagt, dass ich meinen Sohn für ein Pflegeheim anmelden soll. Man war der Meinung, dass ich es nicht schaffen würde, mich rund um die Uhr um Jochen zu kümmern." Was tun? Natürlich fehlt der berufstätigen Mutter die Zeit, sich 24 Stunden täglich um ihr Kind zu kümmern, trotzdem will sie bestmögliche Betreuung. Aber dass ihr Kind in ein Altersheim abgeschoben werden sollte, weil es keine Wachkoma-Stationen in österreichischen Spitälern gibt, war für sie eine unzumutbare Vorstellung. Schier unermüdlich setzte sich Uschi Obermeier für Jochen ein. Niemals hätte sie mit all den Schwierigkeiten gerechnet, die sich ihr in den Weg stellten. Es begann ein Spießrutenlauf durch die Behörden, die für die Situation nur wenig Verständnis zeigten. Die Bürokratie schien unüberwindlich. Schließlich erreichte die Frau wenigstens eine graduelle Verbesserung. Im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) wurde eine Station speziell für Wachkoma-Patienten adaptiert. Zunächst nur sechs Betten, nach wiederholten Interventionen jedoch im August 2001 für 25 Patienten erweitert. Jochen wird wöchentlich von fünf Therapeuten betreut, die seine Mutter für ihn ausgesucht hat. Er bekommt Physiotherapien und sogar altorientalische Musiktherapien. Sein Zustand verbessert sich ständig.
Die unermüdliche Frau hat für ihr Kind sogar eine eigene Homepage gestaltet. Unter der Adresse gibt es aktuelle Bilder aus dem Pflegeheim und ein aufschlussreiches Tagebuch zu sehen. Minutiös hat Uschi Obermeier den Verlauf von Jochens Zustand dokumentiert. Jede kleinste Veränderung wurde registriert und auf den Internet-Seiten festgehalten. Beim Lesens kommt es einem fast so vor, als würde der junge Mann seine Geschichte selbst erzählen, doch hinter den persönlichen, trotz der bitteren Situation mitunter auch heiteren Worten, steckt seine Mutter. Sie war maßgeblich an der Gründung der Österreichischen Wachkoma-Gesellschaft beteiligt, die es seit 30. Mai 2001 gibt.  Die vielen Probleme im Zuge der Nachbetreuung und die Tatsache, dass jährlich 400 Menschen in Österreich ein ähnliches Schicksal wie Jochen erleiden und nach der Erstbehandlung zumeist "nur" in geriatrischen Instituten unterkommen, haben sie dazu bewegt. Obwohl 50 Prozent der Betroffenen jünger als 40 Jahre sind, gibt es bisher keine geordnete Versorgung für diese Patientengruppe. "Viele Patienten benötigen eine oft über viele Monate ­ teilweise auch Jahre ­ hinausgehende, kontinuierliche Rehabilitation, die aber häufig nicht vom Kostenträger übernommen wird. Als Folge werden diese Patienten viel zu früh als Pflegefälle deklariert und landen vielfach in Pflegeeinrichtungen, die den Anforderungen dieser Patienten nicht entsprechen können", so Primarius Dr. Johann Donis, Vorsitzender der Gesellschaft. Klar definierte Ziele sollen die Missstände endlich beseitigen: Die Zustände müssen verbessert werden "Wir betreiben Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Wachkoma und wollen die Krankenkassen zwecks Kostenbeteiligung einbinden. Außerdem fordern wir eine durchgängige, flächendeckende Rehabilitation für Betroffene, mehr Information und psychologische Betreuung für Angehörige, verstärkte Hilfe für Pflege zu Hause und eine Definition der Qualitätsmerkmale für aktivierende Behandlungspflege. Auf den Punkt gebracht: Wir wollen die Zustände für alle Beteiligten verbessern", so Uschi Obermeier. Dass ihr oftmals zermürbender Kampf erste Erfolge zeigt, davon kann sich die tapfere Frau im Dezember überzeugen: Auf Initiative von Stadträtin Dr. Pittermann-Höcker findet im Rathaus eine Enquete zum Thema "Koma-Rehabilitation und das apallische Syndrom" statt. Ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation, dem in Zukunft hoffentlich noch viele weitere folgen werden.